Eine besondere Deutschstunde an der Kaltennordheimer Regelschule: Heft und Buch werden nicht benötigt, stattdessen Sportsachen. Die Realschüler der 9. Klasse treffen sich in der Turnhalle. In der Mitte sind Matten ausgelegt. Darauf steht Kaltennordheims evangelischer Pfarrer Lars Ophagen im Kampfanzug. Ophagen trainiert in seiner Freizeit die japanische Kampfkunst Aikido.
Im Deutschunterricht beschäftigen sich die Realschüler unter anderem mit Fachtexten. Mehrere Seiten im Buch widmen sich dem Thema Selbstverteidigung. Geschichte, ethische Aspekte und Techniken sind beschrieben. Unter anderem wird auch die Kampfsportart Aikido erklärt – mit vielen fremdsprachigen Fachbegriffen. „Die Texte sind schwer zu verstehen, da hatte sogar ich zum Teil Mühe“, sagt Deutschlehrerin Angelika Dolch. Im vergangenen Jahr hatte sie die Idee, sich zusätzliche Informationen zu beschaffen. Pfarrer Ophagen, der an Kaltennordheims Regelschule Religion unterrichtet, kennt sie aus dem Lehrerzimmer, weiß auch von dessen Kampfsport-Hobby. Eigentlich wollte Angelika Dolch nur ein paar im Lehrbuchtext unklare Begriffe erläutert bekommen. Lars Ophagen bot sofort eine praktische Vorführung für die Schüler an. So fand im vergangenen Schuljahr die erste Deutschstunde dieser Art in der Turnhalle statt. Die heutige 9. Klasse hatte damals im Nebenraum der abgeteilten Halle Sportunterricht gehabt und schon neugierig durch die Trennwand gelinst. Klar, dass die Mädchen und Jungen nun auch solch eine praktische Lektion wünschten.
Lars Ophagen beginnt mit einigen Aufwärmübungen. Dann erhalten die Schüler einen Schnellkurs, wie man richtig fällt. Schließlich soll niemand verletzt werden. Dann folgen Würfe, und der Pfarrer erzählt dabei von der japanischen Kampfkunst, welche ausschließlich der Selbstverteidigung dient. „Sie beginnt im Kopf, ist mit viel Theorie verbunden“, sagt er. Die Neuntklässler sind begeistert dabei, probieren das Gezeigte sofort aus. „Der beste Kampf ist der, der nicht stattfindet“, meint Lars Ophagen. Beim Aikido gehe es nicht darum, den Angreifer zu verletzen, sondern ihn von der Sinnlosigkeit seines Angriffs zu überzeugen. „Selbstverteidigung funktioniert zu 90 Prozent mit Entschlossenheit, die restlichen zehn Prozent sind Technik“, sagt der Pfarrer und animiert die Schüler, stets aufrecht zu gehen, einen Angreifer zunächst bestimmt zu warnen. Wenn das nichts nützt, bietet Aikido Abwehrtechniken wie Würfe und Kicks. Ophagen demonstriert eindrucksvoll, wie man einen Schlag oder gar einen Angriff mit Messer und Elektroschocker abwehrt oder wie man sich aus einem Festhaltegriff befreit. Den Angreifer ablenken, zum Beispiel mit einem plötzlichen Schrei oder einer geworfenen Taschentuchpackung, rät er und führt es vor. „Der Schrei ist ein hervorragendes Mittel, um einen Überraschungsmoment zu erzeugen. Zusätzlich bekommt man Mut, wenn man schreit“, erzählt der Trainer.
Zu schnell geht die Doppelstunde vorüber. „Können wir nicht noch eine Stunde dranhängen?“, fragen die Schüler. Angelika Dolch und Lars Ophagen verneinen – aber nur für diesen Moment. Wer aber mehr über Aikido erfahren und die Kampfkunst erlernen will, hat dazu Gelegenheit: Ophagen trainiert jeden Donnerstag in der Turnhalle ab 19 Uhr Erwachsene und fortgeschrittene Schüler in der von ihm gegründeten Aikido-Abteilung des Kaltennordheimer Sportvereins „RSV Fortuna“. Freitags gibt es die Kampfsportart als Schul-Arbeitsgemeinschaft für Kinder, jeweils ab 14 Uhr.
„Weich aus, wenn du gestoßen wirst, und trete ein, wenn du gezogen wirst“ – so lautet das Grundprinzip von Aikido. Dies sei in fast allen Lebenssituationen anwendbar, aber stets ausschließlich zur Verteidigung. Christlicher Glaube und Aikido seien ethisch sehr gut vereinbar. Er betrachtet seine ehrenamtliche Trainer-Tätigkeit auch als Jugendarbeit, Prävention und ein Stück Mission. „Ich sehe, dass besonders bei Jungen häufig ein Ausgleich fehlt. Das ist ein Mangel unserer Gesellschaft. Diesen Ausgleich suchen sie dann oft in verbotenen Bereichen“, sagt Lars Ophagen. Hier zu helfen, sieht der Pfarrer als Aufgabe für ihn. Er hilft mit Aikido – „das kann ich eben“ – und bietet Jugendlichen einen sinnvollen Ausgleich, lehrt sie zudem, Gewalt zu begegnen, mit ihr umzugehen, gesundes Selbstbewusstsein auszuprägen. „Aikido ist eine Möglichkeit, Gewalt zu begegnen, ohne Gegengewalt auszulösen.“
eingesandt von Lars Ophagen,
RSV Kaltennordheim e. V.
Quelle: Südthüringer Zeitung vom 10.03.2010;
Autor: Stefan Sachs