Zen-Kalligrafie und ihre Verbindung zu den Kampfkünsten
… Um Zen-Kalligrafie richtig auszuführen, muss man sich ganz dem Werk hingeben. Jedes Werk ist einzigartig und spiegelt die besonderen Umstände seiner Entstehung wider. Die Geisteshaltung des Kalligrafen, die Umgebung, das Schreibgerät und die verwendete Tinte machen jedes Werk einzigartig. In den Kampfkünsten ist jede Auseinandersetzung einzigartig. Eine heute ausgeführte Technik sollte nicht die gleiche sein wie morgen. Der Begründer des Aikido sagte: „Die Techniken des Friedensweges ändern sich ständig; jede Begegnung ist einzigartig, und die passende Reaktion sollte sich ganz natürlich ergeben. Die heutigen Techniken werden morgen andere sein. Verlieren Sie sich nicht in Form und Erscheinung einer Herausforderung. Die Kunst des Friedens hat keine Form – sie ist das Studium des Geistes.“ Ebenso sollte jedes kalligrafische Werk einzigartig sein. Kunstformen wie die japanische Kalligrafie und die Sumi-e-Malerei sind Mittel, die durch Zen erworbene Geisteshaltung auszudrücken. Darüber hinaus sind sie Wege, Zen zu erfahren. Aikido kann demselben Zweck dienen. Wenn man es so betrachtet, gibt es keinen Unterschied zwischen Kalligrafie, Malerei, Teezeremonie, Aikido und jeder anderen Kampfkunst, wenn man diese Künste mit der richtigen mentalen Einstellung angeht.
… Im Grunde genommen ist das richtige Studium einer Kampfkunst, wie jede spirituelle Disziplin, ein Verlust, kein Gewinn. Ein berühmter Zen-Meister sagte einmal: „Das Selbst zu studieren bedeutet, das Selbst zu vergessen. Das Selbst zu vergessen bedeutet, alle Dinge zu verstehen.“ Ein anderer empfahl seinem Schüler einmal, über das Nichts zu meditieren. Nach Jahren kehrte der Schüler zum Meister zurück und sagte: „Ich habe endlich das Nichts erreicht. Was soll ich jetzt tun?“
Der Lehrer antwortete: „Wegwerfen.“
Mit diesen Worten erlangte der Schüler Erleuchtung. Diese Geisteshaltung wird in verschiedenen Disziplinen angestrebt. Die Idee des verbleibenden Geistes, des Nicht-Geistes und andere mit Zen verbundene Geisteshaltungen werden in Aikido, Shodo und Sumi-e angestrebt: allesamt Zen-Disziplinen, wenn sie richtig angegangen werden. So ist Kalligrafie mit Aikido verbunden:
Im Aikido üben wir die meisten waza (Techniken) in einer Kata-Form, bis wir lernen, diese waza fließend und spontan anzuwenden, beispielsweise im Randori oder in einer Selbstverteidigungssituation. Bedenken Sie die Vorteile des Kata-Trainings: In Japan und China ist es traditionell anerkannt, dass Kata-Training die tatsächliche Anwendung lehrt. Je besser die Form, desto besser sind die Techniken in der tatsächlichen Anwendung. Manche Lehrer glauben, dass Kata oder stilisierte Formen nicht zur echten Selbstverteidigung eingesetzt werden können. Kata-Unterricht ist eine Tradition, die früher im Geheimen lag. Die Formen stellen die klassischen Vehikel dar, durch die die Geheimnisse einer Kunst über unzählige Generationen weitergegeben wurden. In der Vergangenheit wurde dieser Mantel noch enger gezogen. Die esoterischen Aspekte der Kampfkünste wurden vor der Öffentlichkeit (und insbesondere vor Westlern) geheim gehalten, damit die höheren Ränge ihre Autoritätspositionen wahren konnten. Infolgedessen bilden sich viele Ausbilder ihre Meinung über das Kata-Training auf der Grundlage eines unvollständigen Verständnisses. Kata oder abstrakte Formen waren sowohl als bewegliches Lehrbuch als auch als Gedächtnisstütze gedacht, um die zugrunde liegenden Prinzipien einer Kunst durch Übung zu offenbaren.
Kata-Formen sind der einzige Grund, warum Aikido als Kunstform heute existiert. Kulturelle Themen ziehen sich durch viele japanische Traditionen und verweisen auf Prinzipien und Verhaltensregeln, die dem westlichen Denken abstrakt erscheinen, für Japaner jedoch völlig selbstverständlich sind. Das Verständnis der Kultur dieser Traditionen kann dazu beitragen, den in unseren eigenen Formen verborgenen Schatz zu heben. Ich möchte diesen Gedanken anhand der Kunst der Kalligrafie vertiefen und für die Leser verdeutlichen:
Shodo ist das japanische Wort für Kalligrafie und beschreibt wie das Wort Aikido nicht nur die Aktivität, sondern auch die ihr zugrunde liegende Philosophie. Der Begriff Shodo impliziert, dass Meisterschaft nicht am Ziel einer Reise, sondern durch die kollektive Erfahrung entsteht, die im Rahmen dieser Reise gemacht wird. Daher würden Shodo und Aikido für uns als „der Weg oder Pfad des Schreibens“ und „der Weg oder Pfad des Aiki“ übersetzt werden.
… Durch Shodo werden Sprache, Augen und Hand mit den tieferen Aspekten des Bewusstseins verbunden. Dies steht in wunderbarem Zusammenhang mit dem Kata-Training. Ein früher Schüler O‑Senseis, Shirata Rinjiro (1912–1993), erklärte dies:
[O-Sensei] sagte uns, dass Aikido ursprünglich keine Formen hatte. Die Bewegungen des Körpers als Reaktion auf den eigenen Geisteszustand werden zu den Techniken. Er sagte: „Es gibt keine Techniken. Was man jedes Mal ausdrückt, ist eine Technik.“ Dasselbe gilt für die Kalligrafie. Die Kalligrafie eines Anfängers und die Kalligrafie späterer Jahre unterscheiden sich. Die Arbeit ist anders. Man kann also nicht sagen, welche die „wahre“ Arbeit ist. Im Alter kann man durch Kalligrafie oder Ähnliches einen Zustand absoluter geistiger Freiheit ausdrücken. Sie ist eine Art, seinen Geist auszudrücken. Sie ist eine „Form“. Der Geist entwickelt sich allmählich, und mit dem Wachstum entsteht eine Form, eine Art des Ausdrucks.[1]
Shodo bietet viele Stile und Formen, von strenger Präzision bis hin zu wunderschöner, anmutiger, fließender Geschmeidigkeit. Die erste definierbare Ebene im Shodo ist Kaisho, ähnlich wie die Druckschrift oder eine einfache Schreibform. Kaisho ist die Standardschrift, ausgewogen und frei von Individualität. Diese Schrift weist eine starre, kantige und klar definierte Struktur auf. Beim Erlernen einer Form ist Kaisho eine passende Metapher für ihre Ausführung. Die Bewegungen sind kantig, klar definiert und rhythmuslos. Verborgene Bewegungen sind abstrahiert oder, im Falle von Anfängern oder trägen Schülern, noch nicht entdeckt. Eine solche Form mag Können und Verständnis voraussetzen, doch für das Auge eines Meisters ist es offensichtlich, dass es sich um eine grundlegende, elementare Ebene handelt. Von einem Anfänger wird erwartet, dass er diese Ebene verstanden hat, bevor er fortfahren kann.
Die nächste Ausführungsebene ist Gyoshi, ein halbkursiver Schreibstil. Es ist eine informellere Schreibweise, bei der die Zeichen durch einzelne Zwischenstriche miteinander verbunden werden. Vergleicht man die Kunst der Kalligrafie mit den körperlichen Techniken einer Kampfkunst, so kann man Gyosho als das Auswendiglernen der waza-Bewegungen betrachten. Die Sicherheit bei der Ausführung der Form befreit Sie ein wenig von geometrischen Zwängen, während Sie dennoch die korrekte Form beibehalten. Im Aikido nennen wir dies kihon-waza. Ihr Bewusstsein für die einzelnen waza oder Striche verleiht Ihnen von einem Moment zum nächsten mehr Gewandtheit und ermöglicht ein gewisses Maß an Individualität. So beginnen Sie, totales Bewusstsein (Zanshin) zu verstehen, bei dem wir uns nicht nur auf die Gegenwart (sen) konzentrieren, sondern auch auf unsere Vorfreude auf das, was der Gegenwart folgt (sen no sen).
Der dritte Stil oder die dritte Stufe ist Sosho. Es ist kursiv. Es hat keine scharfen Winkel und der Übergang von Zeichen zu Zeichen ist fließend. Obwohl es ein individueller und freier Stil ist, gibt es klare Regeln, was richtig ist und was nicht. Für den Durchschnittsmenschen ist dieser Stil manchmal schwer zu lesen, aber er basiert fest auf den Regeln und dem Stil von Kaisho, der grundlegendsten Form japanischer Kalligrafie. Wenn Sie den falschen Strich kürzen oder die falsche Linie weglassen, können die Zeichen nicht gelesen oder verstanden werden. Übersetzt in waza bedeutet dies ineffektive und falsche Technik. Wenn Ihr waza- oder Shodo-Level Sosho erreicht hat, erscheinen Zeichen oder Techniken spontan, elegant, effektiv und gut ausbalanciert. Im Shodo, der Schwertkunst oder dem Aikido wird diese Reise viele Jahre dauern und Ihnen viel Frustration bescheren. Sie wird Ihnen jedoch auch Freude, Selbstverwirklichung und ein Verständnis der Prinzipien von ki und des Universums bringen.
Aus: „FOLLOWING THE MARTIAL PATH: Lessons and Stories from a Lifetime of Training in Budo and Zen“ Chapter 7 – Zen Calligraphy and Its Connection to Martial Arts
von Walther G. von Krenner und Ken Jeremiah
ISBN: 9780692818152
Übersetzung: Thomas Walter
[1] Pranin, Aikido Pioneers, 122